Textilwirtschaft in Ägina Kolonna

 

von der späten Früh- bis in die frühe Spätbronzezeit

 

Die Archäologie als eine antike Kulturwissenschaft hat sich in den letzten Jahrzehnten verstärkt Quellengattungen zugewandt, die auf den ersten Blick unscheinbar, spröde und wenig aussagekräftig erscheinen, um daraus anhand quantitativ auswertbarer Artefaktsammlungen längerfristige technische und wirtschaftliche Entwicklungen zu rekonstruieren. Diese Hinwendung zu Alltagsgegenständen und dezidiert nicht Kunst- oder Prestigeobjekten geht auch einher mit Fragen nach bislang unterrepräsentierten „Lebenswelten“ oder Personengruppen und deren sozialgeschichtlicher Kontextualisierung.

 

Die Salzburger Forschungen im bronzezeitlichen Ägina Kolonna galten dabei lange Zeit vor allem den architektonischen Resten der Befestigungsanlage (zuletzt Gauß 2018; 2019) und der geplanten früh- und mittelbronzezeitlichen Siedlung. Erst seit den 2000er Jahren rückt neben der Keramik, deren Herstellung in verschiedenen Produktionszweigen für Kolonna ein eminenter Wirtschaftszweig war (zusammenfassend Klebinder-Gauß – Gauß 2015), auch die kontextuelle Rekonstruktion der diachronen Lebensgrundlagen in den Vordergrund (vgl. Forstenpointner u. a. 2010; Galik u. a. 2010; 2013). Begleitend dazu erfuhren die unscheinbaren Textilgeräte, vor allem Spinnwirtel und Webgewichte, zunehmend Beachtung und werden seit einigen Jahren systematisch von mir aufgearbeitet (Vetters in Vorbereitung). Bislang habe ich in Kolonna bronzezeitliche Textilgeräte vor allem aus drei gut stratifizierten Arealen der prähistorischen Siedlung ausgewertet: Aus der Umgebung der prähistorischen Befestigungsanlage (Walter – Felten 1981), aus neuen SCIEM-Grabungen in der prähistorischen Innenstadt (beispielsweise Gauß – Smetana 2007; zur Keramik Gauß – Kiriatzi 2011) und insbesondere aus dem Areal des sogenannten mittelbronzezeitlichen Großsteinbaus (Gauß u. a. 2011) sowie aus einem geschlossenen frühmykenischen Brunnenbefund (Pruckner 2010) in der Äußeren Vorstadt.

Abb. 1: FH III-zeitliche Spinnwirtel aus Kolonna V; © Melissa Vetters
Abb. 1: FH III-zeitliche Spinnwirtel aus Kolonna V; © Melissa Vetters

Seit ca. fünfzehn Jahren ist die Textilarchäologie ein Forschungsfeld, das immer stärker von der Analyse von Textilgeräten mittels quantitativer und statistischer Methoden geprägt ist (grundlegend Mårtensson u. a. 2009; Andersson Strand – Nosch 2015), sowie chaîne opératoire-Modelle (vgl. Andersson Strand 2012; Ulanowska 2020), Gebrauchsspurenanalysen, gut protokollierte experimentalarchäologische Studien (z. B. Ulanowska 2016) und Forschungen zu cross-craft interaction integriert. In den letzten Jahren hat sich die Textilarchäologie deshalb zu einer Schnittstelle zwischen kultur- und naturwissenschaftlichen Ansätzen, digital humanities und data sciences entwickelt (Dickey u. a. 2022; Ulanowska u. a. 2022). Aber auch für Fragen nach Innovationen und Technologietransfer sowie wirtschaftlicher Wertschöpfung (Cutler 2021; Gleba u. a. 2021), hier insbesondere der Wirtschaftsleistung von bislang unterrepräsentierten Gruppen – Frauen und Kindern – bietet die Textilforschung ein multidisziplinäres Untersuchungsfeld (beispielsweise Barber 1994; Michel 2021).

 

Meine Analysen der Textilgeräte aus Ägina Kolonna beruhen auf einer detaillierten Materialaufnahme der überwiegend tönernen Spinnwirtel, Webgewichte, rundgeschlagenen, durchbohrten Scherben, horizontal durchbohrten Spulen sowie Knochengeräte.

 

Abb. 2: horizontal durchbohrte Spulen aus einem SH I-zeitlichen Brunnenbefund; © Melissa Vetters
Abb. 2: horizontal durchbohrte Spulen aus einem SH I-zeitlichen Brunnenbefund; © Melissa Vetters

 

Methodisch basiert meine Auswertung der Textilgeräte auf Funktionsanalysen, bei denen die Maß- und Gewichtsangaben von Spinnwirteln und Webgewichten weitaus wichtigere Merkmale zur Klassifikation als stilistisch-typologische Charakteristika darstellen: Die Werte eines einzelnen Spinnwirtels sind per se nicht aussagekräftig, da die Qualität des Spinngarns vor allem von den Fertigkeiten der (vermutlich überwiegend weiblichen) Spinnerinnen und der Qualität und Aufbereitung der verwendeten Fasern abhängt (z. B. Kania 2013; Verhecken 2013). Allerdings sind Textilgeräte ebenso wie andere Werkzeuge grundsätzlich ergonomisch und werden laufend für ihren Verwendungszweck optimiert; Veränderungen in den Größen- und Gewichtsparametern einer großen Anzahl an Spinnwirteln kann also gute Aufschlüsse über Veränderungen in den verwendeten Fasern und damit Auskunft zur Garnherstellung geben (vgl. Grabundžija – Schoch 2020; Grabundžija u. a. 2021).

Abb. 3: rundgeschlagene, durchbohrte Scherben aus FH III-zeitlichen Kontexten; © Melissa Vetters
Abb. 3: rundgeschlagene, durchbohrte Scherben aus FH III-zeitlichen Kontexten; © Melissa Vetters

Ähnlich wie heute sind Textiltechnologien in der Ägäis seit der Frühbronzezeit in bestimmten Regionen und zu bestimmten Zeiten vor dem Hintergrund von – für die damalige Zeit – globalen Textilökonomien zu sehen, wie mesopotamische, inneranatolische, vorderasiatische und mykenische Schriftzeugnisse des späten 3. und 2. Jahrtausends v. u. Z. verdeutlichen (unter anderem Michel – Nosch 2010; Breniquet – Michel 2014; Harlow u. a. 2014; Andersson Strand – Nosch 2019).

 

Bei der Auswertung der empirischen Daten von Spinnwirteln und Webgewichten besteht jedoch ein grundsätzliches Problem darin, dass allein beim Gewichtswebstuhl, der nur eine Form der technischen Umsetzung darstellt, Webgewichte verwendet werden, während die anderen Webstuhlarten aus vergänglichen Materialien (meist Holz) gefertigt sind, die bei den Klima- und Bodenverhältnissen in der Ägäis kaum bis keine Spuren im archäologischen Befund hinterlassen. Damit lässt sich das Endprodukt der Textilherstellung – der Gewebestoff – nur dann ungefähr rekonstruieren, wenn Webgewichte erhalten sind. An diesem Problem knüpft mein kulturhistorischer Ansatz an: In der Forschung war bislang communis opinio, dass der Gewichtswebstuhl in Griechenland und Anatolien seit dem Neolithikum genutzt wurde, wobei das griechische Festland in der Mittelbronzezeit eine Fundlücke aufweist und nur vereinzelt Webgewichte minoischen Typs auftreten (Pavúk 2012). Dieses Phänomen wurde von der Forschung als „Übernahme kretischer Webstuhltechnologie“ im Mittel- und Späthelladikum interpretiert und gilt als ein wichtiges Beispiel für Innovation und Technologietransfer und sogenannte Minoisierungsprozesse, d. h. die Ausbreitung bestimmter Lebensstile und Technologien, die im minoischen Kreta (der ersten europäischen Hochkultur) entstanden und verbreitet waren (grundlegend Cutler 2021).

Abb. 4: scheibenförmige Webgewichte minoischen Typs aus einem SH I-zeitlichen Brunnenbefund; © Melissa Vetters
Abb. 4: scheibenförmige Webgewichte minoischen Typs aus einem SH I-zeitlichen Brunnenbefund; © Melissa Vetters

Ägina Kolonna ist als Hafensiedlung und wichtiger Knotenpunkt ägäischer Seehandelsnetzwerke seit dem Einsetzen der Segelschifffahrt ein Ort, an dem großer Bedarf an grob gewebten, aber sehr großen Stoffmengen – (wohl in zusammengenähten Bahnen) für Rahsegel – bestand. Die Verknüpfung experimentalarchäologischer Untersuchungen, historischer Quellen zu Ägina und antiker Schiffswracks erlaubt eine grobe Modellierung des Zeit- und Arbeitsaufwandes zur Segelherstellung für jährlich zehn Schiffe (vgl. Dimova u. a. 2021): Zwanzig Personen waren ungefähr vier Monate nur mit dem Garnspinnen und Weben der Segelstoffe beschäftigt, was in Anbetracht der Siedlungsgröße von Ägina Kolonna ein beträchtlicher Anteil an Arbeitskräften und -zeit und damit ein nicht zu unterschätzender ökonomischer Faktor darstellt.

 

Außerdem lieferte ein naturwissenschaftlicher Ansatz neue Erkenntnisse: In meinem Forschungsprojekt wurden erstmals tönerne Webgewichte aus Kolonna in größerem Umfang petrographisch untersucht (dank der finanziellen Unterstützung durch INSTAP; Balitsari – Kiriatzi 2018), um anhand der Tonzusammensetzung die einstige Herkunft der Artefakte zu bestimmen und Minoisierungsprozesse detailliert zu analysieren. Bei den beprobten Webgewichten aus Ägina Kolonna zeigte sich, dass ein Teil der Webgewichte nicht in Ägina hergestellt, sondern aus den Kykladen und sogar Kreta importiert worden war. Da Textilgeräte und insbesondere Webgewichtssets in historischer Zeit häufig Teil der Mitgift bilden, sind solch importierte Webgewichte wahrscheinlich ein Hinweis auf auswärtige Frauen, die im Zuge weitgespannter Handels- und Heiratsnetzwerke neue Technologien mit sich bringen und in der neuen Heimat etablieren (grundlegend Cutler 2021, s. aber zu einer anderen Interpretation Muti 2024). Dabei ließ sich auch zeigen, dass in Ägina Kolonna das erste Auftreten von Webgewichten minoischen Typs zu Beginn der Mittelbronzezeit stattfindet und damit, wenn überhaupt, nur ein kurzer Hiat zur Gewichtswebstuhlverwendung in der entwickelten und späten Frühbronzezeit bestand, also möglicherweise ein offensichtlich kleiner Personenkreis vermutlich noch bekannte Webtechniken nur modifizieren und nicht vollständig neu erlernen musste.

Abb. 5: Gebrauchsspuren an Spinnwirteln und Webgewichten aus Ägina Kolonna: FH III-zeitlicher Spinnwirtel (links M 1 : 1 / rechts M 2 : 1); und scheibenförmiges Webgewicht aus SH I-zeitlichem Kontext (rechts doppelte Vergrößerung); © Melissa Vetters
Abb. 5: Gebrauchsspuren an Spinnwirteln und Webgewichten aus Ägina Kolonna: FH III-zeitlicher Spinnwirtel (links M 1 : 1 / rechts M 2 : 1); und scheibenförmiges Webgewicht aus SH I-zeitlichem Kontext (rechts doppelte Vergrößerung); © Melissa Vetters

Allerdings waren im Verlauf der Mittel- und frühen Spätbronzezeit die in Kolonna gefundenen minoischen und minoisierenden Webgewichte besonders zur Herstellung feiner, wahrscheinlich mustergewebter Stoffe geeignet und repräsentieren damit nicht die gesamte Bandbreite an Stoffqualitäten von fein zu grob, wie sie im neupalastzeitlichen Zentrum Kretas – Knossos – anhand der Webgewichte rekonstruierbar sind. Die Übernahme der minoischen Gewichtswebstuhltechnologie unter spezifischer Verwendung scheibenförmiger Webgewichte minoischen Typs zielte demnach vor allem auf die Herstellung von äußerst arbeitsintensiven (und prestigeträchtigen) Textilien, wofür auch die klaren Belege für eine lokale Purpurfarbstoffproduktion seit der Mittelbronzezeit sprechen (zuletzt Berger u. a. 2020).

 

Literatur:

 

 

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Breniquet – Michel 2014  C. Breniquet – C. Michel (Hrsg.), Wool Economy in the Ancient Near East and the Aegean: From the Beginnings of Sheep Husbandry to Institutional Textile Industry, Ancient Textiles Series 17 (Oxford 2014)

 

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Galik u. a. 2010  A. Galik – S. Zohmann – G. Forstenpointner – G. Weissengruber – W. Gauß, Subsistence and more in Middle Bronze Age Aegina Kolonna: Exploitation of Marine Resources, in: A. Philippa-Touchais – G. Touchais – S. Voutsaki – J. Wright (Hrsg.), Mesohelladika. Μεσοελλαδικά: La Grèce continentale au Bronze Moyen. Η ηπειρωτική Ελλάδα στη Μέση εποχή του Χαλκού. The Greek Mainland in the Middle Bronze Age. Actes du colloque international organisé par l’École française d’Athènes, en collaboration avec l’American School of Classical Studies at Athens et le Netherlands Institute in Athens, Athènes, 8–12 mars 2006, BCH Suppl. 52 (Athen 2010) 743–751

 

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